
Irgendwo am anderen Ende der Welt …
- Posted by Nicole Bee
- On February 1, 2015
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… lebt jemand, der unsere Aufmerksamkeit braucht! Don Luis, wie er liebevoll von allen Nachbarn und Freunden genannt wird, ist 50 Jahre alt und leidet seit seiner Geburt an Muskelschwund. Er lebt in Medellin, Kolumbien – im Viertel Pablo Escobar, das von seinem Namensvetter für die Ärmsten der Stadt erbaut wurde. Früher nannte man das in den Bergen der Stadt gelegenen barrio auch Medellin ohne Dächer, denn hier lebten die Menschen zuvor auf einer riesigen Müllhalde und stritten mit den Geiern um den Abfall.
Luis Familie bekam das Haus von Pablo Escobars Mutter geschenkt. Es ist aus Stein gebaut, hat zwei Stockwerke und ein Wellblechdach. Nichts ist gefliest, verputzt oder in anderer Form weiter verarbeitet – auch nicht Bad und Küche. Auf dem Boden, direkt am Fenster gibt es eine Matratze, auf der Luis tagsüber sitzt und nachts liegt. Seine Krankheit ist soweit fortgeschritten, dass er nur noch Kopf, Hände und mit viel Kraftanstrengung ein wenig die Beine bewegen kann.
Oft stehen in seinem recht dunklen Zimmer noch Motorräder, die die jungen Männer des Viertels hier zu einem geringen Preis parken können. Ein weiteres kleines Zimmer ohne Fenster ist manchmal vermietet – ebenso wie der erste Stock des Hauses. Das bringt Luis die Einnahmen, die er zum Leben braucht. Mit dem Geld bezahlt er die Nebenkosten des Hauses und ein wenig bekommt die Nachbarin, die ihm jeden Tag eine warme Mahlzeit bringt.
Als ich Luis zum ersten Mal treffe – das ist nun schon mindestens sechs Jahre her – erzählt er mir stolz von seinem Leben und seiner Geschichte. Er ist kein „unbeschriebenes Blatt“ im positiven Sinne, denn die Zeitung hat schon mehrfach über ihn berichtet und er war sogar in einer Reportage im deutschen Fernsehen zu sehen. Warum? Luis hat in seinem Haus eine kleine Bibliothek für die Kinder des Viertels eingerichtet, denn das barrio war lange nicht legalisiert und bekam deshalb von der Stadt keinerlei Unterstützung bezüglich Bildung oder Freizeitangeboten.
Die Kinder kommen nach der Schule zu Luis, machen Hausaufgaben, lesen und schauen manchmal auch fern. Eine tolle Symbiose, denn die Kinder haben einen Ort, an dem sie ihre Freizeit verbringen können und angeregt werden, ihre Hausaufgaben zu machen (Luis hat da immer ein Auge drauf und hilft auch bei den Aufgaben). Auf der anderen Seite, ist Luis beschäftigt und unter Menschen und hat eine Aufgabe. Es tut ihm gut, denn Kinder sind unvoreingenommen, mögen ihn. Viele Erwachsene des Viertels scheuen Luis oder denken, er sei ein Griesgram. Durch seine Krankheit hat Luis nur noch wenig Möglichkeiten seine Gesichtsmuskeln zu bewegen, er sieht also immer recht ernst aus – sein Lächeln ist nur schwer zu erkennen.
Die Kinder, die in seiner Bibliothek gross geworden sind, sind heute junge Erwachsene und die Menschen, die sich um Luis kümmern. Sie sind diejenigen, die ihn morgens aufrichten, waschen, zur Toilette bringen und ihn abends wieder hinlegen. Luis Familie lebt in einem kleinen Dorf, ca. 2 Stunden von Medellin entfernt. Die meisten leiden, wie er, an der unheilbaren Krankheit.
Die Stadt hat sich in den letzten Jahren sehr zum Positiven entwickelt und gilt mit seiner Sozialpolitik als Vorreiter in ganz Lateinamerika. Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung wurde auch das Viertel Pablo Escobar vor ein paar Jahren endlich legalisiert und die ersten Fortschritte sind zu sehen. Schulen werden gebaut und nun soll auch ein Kindergarten und ein Spielplatz im Viertel entstehen.
Was sich zunächst positiv anhört, wird für Luis allerdings gerade zum Albtraum. Sein Haus steht an der Stelle, an der der Kindergarten entstehen soll! Die Stadt hat ihm schon mehrfach Geld geboten, damit er in ein neues Haus umzieht.
Die Probleme:
- Das gebotene Geld ist sehr viel geringer, als Luis für ein neues Haus bezahlen müsste
- Luis kann nicht irgendwo wohnen – es muss ebenerdig sein, damit er mit seinem Rollstuhl, den eine Stiftung für ihn maßschneidern ließ, auch ab und zu einmal aus seinem Haus heraus fahren kann
- Luis muss im nahen Umkreis von seinem jetzigen Haus wohnen, denn hier leben die Menschen, die sich um ihn kümmern
Don Luis ist natürlich der letzte, der einen Kindergarten in seinem Viertel ablehnt, aber er hat große Angst. Bis zum 15. Februar muss er sein Haus geräumt haben, ansonsten wird er in ein Heim gebracht.
Eine Stadt, die sich nie um Luis gekümmert hat, keine Bezuschussung zur Bibliothek, keine Arztbesuche oder eine Unterstützung in Bezug auf Physiotherapie – nichts!… ist nun in der Lage, ihn aus seinem zu Hause, aus seiner Umgebung, weg von seinen Freunden zu bringen!
Man könnte sagen: „Da ist er betreut und es wird ihm besser gehen“, aber dem ist nicht so. Luis würde entwurzelt, er wäre fernab von dem, auf was er stolz ist und was er liebt. Luis kann sich zwar kaum noch bewegen, aber er ist ein sehr kluger Mann, der den Austausch – vor allem mit den Kindern – braucht! Sich nützlich zu fühlen, geliebt zu werden und seinen Kopf anstrengen zu können. Das macht ihn glücklich! Das ist sein Leben!
Es macht mich sehr traurig und wütend Luis Geschichte mit diesem Ende schreiben zu müssen. Vorzeige-Sozialpolitik? Sie ist widersprüchlich und nicht gerecht. Ich fühle mich machtlos, kann kaum etwas tun, außer Luis´ Geschichte aufzuschreiben und euch zu bitten, sie weiter zu erzählen. Das Mindeste, was Luis verdient hat, ist Aufmerksamkeit und dass Menschen an ihn denken … irgendwo am anderen Ende der Welt.
Gemeinsam mit viSozial e.V. haben wir vor ein paar Jahren ein Schild an Luis Haus angebracht, um noch mehr auf die Bibliothek aufmerksam zu machen. Die Kinder des Viertels haben sich mit ihren Handabdrücken auf der Wand verewigt.
Luis in seiner Bibliothek und die Kinder beim Malen.
Einer der Artikel über Luis hängt eingerahmt am Eingang der Bibliothek.
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